für Freundinnen und Freunde    
der deutschen Sprache    
Rechtschreibdienst: Geschichte der RS Geschichte der Rechtschreibung
Der Weg von der geschichtlich bedingten Vielfalt zur Schreibunsicherheit von heute

Die Art, Gedachtes und Gesprochenes aufzuschreiben, geschah im deutschen Sprachraum aufgrund des Vielstaatentums lange Zeit unterschiedlich, gleichwohl nicht regellos. Ende des 19. Jahrhunderts erkannten sowohl das deutsche Kaiserreich als auch die Schweiz die Schreibweisen im Nachschlagewerk von Konrad Duden als verbindlich an. Er hatte hierin die preußische und bayerische Schreibung harmonisiert. Die Reform im Jahre 1901 setzte erfolgreich Reformvorstöße des 19. Jahrhunderts einheitlich für Deutschland, Österreich und die Schweiz um, zum Beispiel Herrn Dudens Schreibweise von Fremdwörtern mit k oder z statt c, also kompliziert statt complicirt. Das phonetisch richtige th (denn das germanische t ist im Unterschied zum romanischen und slawischen „behaucht“) wurde zu t vereinfacht, also wurde Thür zu Tür.

Im Jahr 1955 erklärten die westdeutschen Kultusminister den „Duden“ für verbindlich in allen orthographischen Zweifelsfällen. Diese Regelung wurde im Jahre 1996 aufgehoben.

Über die Frage der Schreibung berieten mit dem Ziel der Verständlichkeit immer diejenigen Fachleute, die besonders viele Schriftstücke zu gestalten haben; das sind die Lektorinnen, Lektoren, Schriftsetzerinnen und Schriftsetzer. Bis kurz vor dem Ende des zwanzigsten Jahrhunderts befand sich das Regelwerk auf einem Stand, der mit einfachen Mitteln eine gute Verständlichkeit und Differenzierung im Ausdruck ermöglichte, wie sie unserer hochentwickelten Sprache angemessen ist.

Im Jahr 1987 beauftragten Kultus- und Innenminister eine Zwischenstaatliche Kommission aus SprachwissenschaftlerInnen zur Überarbeitung der Schreibregeln. Als Beweggrund wurde verbreitet, man wolle die Schreibung vereinfachen, weil die zunehmende Fehlerhäufigkeit in Schularbeiten dies anrate. Interne Dokumente und Äußerungen zeigen aber, daß ganz andere Gründe ausschlaggebend waren, siehe Zitate zur Reform.

Die im Jahr 1995 beschlossenen und zur Einführung 1998 für Behörden und an Schulen vorgesehenen Regeln wurden schon 1996 in zehn von 16 Bundesländern umgesetzt. Das „Wahrig-“Lexikon schwang sich zum zweiten bedeutenden Werk neben dem Duden auf. Beide legten die Regeln unterschiedlich aus.
Ein abschlägiger Volksentscheid 1998 in Schleswig-Holstein wurde 1999 von der Landesregierung außer Kraft gesetzt. Proteste von Fachleuten (WissenschaftlerInnen und AnwenderInnen) und der übrigen Bevölkerung (es wurden mehrere bundesweite Umfragen durchgeführt) gegen die Reform wurden jedesmal von der jeweils zuständigen Regierung mißachtet. Als wenn sie sich geschlagen gaben, setzten nun widersinnigerweise (weil die neuen Regeln der Aufgabe von Schreibung einen schlechten Dienst erweisen, siehe unten, und die Menschen nicht zum Umlernen verpflichtet waren) auch die meisten Verlage (Zeitungen!), nicht im öffentlichen Dienst und an Schulen Beschäftigten und Privatpersonen die neuen Regeln um.
Das Bundesverfassungsgericht hatte am 14. Juli 1998 festgestellt, daß die Regierung die Schreibung nicht verordnen dürfe. Wortlaut: „Soweit dieser Regelung rechtliche Verbindlichkeit zukommt, ist diese auf den Bereich der Schulen beschränkt. Personen außerhalb dieses Bereichs sind rechtlich nicht gehalten, die neuen Rechtschreibregeln zu beachten und die reformierte Schreibung zu verwenden. Sie sind vielmehr frei, wie bisher zu schreiben. Auch durch die faktische Breitenwirkung, die die Reform voraussichtlich entfaltet, werden sie daran nicht gehindert.“ Für BeamtInnen wurde die Verwendung der neuen Regeln daher (nur) eine Sollbestimmung. Per Kultusministererlaß konnte allein Lehrkräften und Schulkindern die Verwendung der neuen Regeln vorgeschrieben werden.

Die neuen Regeln zerstörten viel von der Verständlichkeit eines Textes, indem in vielen Fällen die lesefreundliche Kommasetzung verboten oder freigestellt und die Zusammenschreibung von Wörtern, die gemeinsam einen neuen Sinn ergeben, verboten wurde; Beispiele dafür sind dahinterkommen (etwas durchschauen) – neu: dahinter kommen – und draufsein (sich ... fühlen) – neu: drauf sein.

Die Zwischenstaatliche Kommission wurde 2004 in den Rat für deutsche Rechtschreibung umgewandelt; er stand auch Kritikerinnen und Kritikern der Reform offen. Schon im selben Jahr und zum August 2006 (der Rat mußte die Überarbeitung der Regeln im Winter 2006 abbrechen) wurden die meisten der schädlichen Schreibvorschriften zurückgenommen. Mit wenigen Ausnahmen braucht nicht immer, aber darf wieder geschrieben werden wie vor 1996.

Die Übrigbleibsel der 1996er Reform und breite Übernahme in Berufen und Bevölkerung sind ein Ärgernis für die Menschen, die die vorreformatorische Ausdrucksfähigkeit zu schätzen wissen und nutzen möchten. Die von ihnen bevorzugte „alte“ Schreibweise nennen sie klassisch, bewährt und Qualitätsschreibung. Zu erkennen ist sie am ß nach kurzem Vokal (Beispiele: daß, muß) und der Zusammenschreibung der letzten verbotenen Wörter, die einen anderen Sinn tragen als bei Getrenntschreibung (Beispiel: soviel).

Die Folge der Reformen seit 1996 aber ist die unter den nicht berufsmäßig mit Fragen der Schreibung befaßten deutschsprachigen Menschen verbreitete Meinung, daß die Schreibweise nun ganz freigestellt sei, und eine weiter steigende Fehlerhäufigkeit in Schularbeiten und Druckwerken. Beispiele finden Sie unter meinen Schreibhinweisen.

Eine viel ausführlichere Datenliste finden Sie bei Schriftdeutsch.de.

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Ludwig Reiners:
Von der Verfassung,
in der sich eine Sprache befindet, hängt es ab, was in ihr gedacht und gesagt wird.“ (in: Stilkunst – Ein Lehrbuch deutscher Prosa, Ersterscheinung 1961)

Zum Tag der Rechtschreibung am 27. September

Die Umfrage, nach welchen Regeln "wir" schreiben, ist seit dem 2. Januar 2020 abgeschlossen und wird nach Spendeneingang weiter ausgewertet.

Der Teil „Rechtschreibung“ eines Vortrages vom 8. August 2019